Bereits Ende letzten Jahres hat mir mein Physiotherapeut Chris Münzing Lust auf einen Ultra gemacht. Er erzählte mir, dass er am Deutschlandlauf teilnehmen möchte und schlug vor, dass ich ihn auf der Heim-Etappe Nr. 16 von Dornstadt nach Memmingen begleite. Klang verrückt. Und spannend!
Eine Stressfraktur, vielerlei Zweifel und ein vorsichtiger Wiedereinstieg später, war der Moment der Wahrheit gekommen: Die gesamte Laufveranstaltung startete am 16. Juli, die Etappe 16. sollte am 31. Juli stattfinden und die Frage wurde akut, ob ich es nun wage, die knapp 66 Kilometer mitzulaufen oder nicht.
Zuerst wollte ich lediglich ab meiner Heimatstadt Vöhringen mitlaufen. Das wäre dann ein schlanker 36k-Lauf geworden und sicher für mich zu schaffen.
Aber irgendwas in mir war dann doch zu neugierig, um sich nicht doch kurzentschlossen für die gesamte Strecke der Etappe anzumelden.
Und Tag für Tag näherte sich die „Entscheidung“ … und mit jedem Tag stieg meine Nervosität.
Vor was hat man Angst? Vor dem, was kommt, wenn man die Grenzen des Gewohnten überschreitet. Marathon kannte ich inzwischen. Daran noch einmal einen halben Marathon anzuhängen kannte ich nicht. Und es war für mich auch kaum vorstellbar. Aber andere machen das doch auch?
Es hilft auch nichts: Sobald einmal der Funken des Interesses in mein Hirn gefallen (oder in meinem Herzen aufgegangen) ist, muss ich wissen, was das ist, das mich anzieht. Notorischer Wissens- und Erlebnisdrang. Die anderen nennen es „extrem“, ich nenne das „so bin ich eben“. Dank diesem Faust’schen „will wissen was die Welt im Innersten zusammenhält“ war ich bereits Komponist, Dichter, Wein-Experte, Läufer und zuletzt Fallschirmspringer … Ich muss – bis zu einem bestimmten Grad – in Erfahrung bringen, was sich hinter meinen eigenen Grenzen jeweils befindet und so das eigene Limit immer wieder verschieben und verändern.
Somit war ausgemacht, dass ich gegen jegliche Vernunft um 5 Uhr in der Frühe am Startplatz in Dornstadt bei all den anderen Einzeletappenläufern und den positiv Verrückten stehen werde, die tatsächlich die komplette Strecke von Sylt bis auf die Zugspitze laufen. 1300 Kilometer, in Worten: Drei Zehn Hundert.
An meiner Seite stand auch Marathon-Hans, der sich ebenso kurz entschlossen hatte, die eigenen Grenzen auszuloten und damit waren wir noch ein Bekloppter mehr, der Punkt 6 Uhr die Startlinie Richtung Süden überquerte.
Zu verlieren hatte ich nicht wirklich etwas – außer meine Gesundheit. Es ging für mich lediglich darum zu versuchen, mindestens die 50 Kilometer und damit eine echte Ultradistanz zu erreichen und vorher nicht zu kollabieren. Das klang machbar.
Beim Start traf ich den Laufhelden Chris und er machte wirklich einen hervorragenden Eindruck. Es war ihm nicht anzusehen, dass er bereits 1.100 Kilometer von Sylt aus hinter sich hatte. Was ein Läufertier, allergrößten Respekt! Ein Athlet mit Vorbildcharakter!
Und bei dieser Fitness verwunderte mich kaum, dass ich schon vom Start weg nicht folgen konnte und ihn ziehen lassen musste, obwohl er ja der Grund für meine Teilnahme war!
Über den Lauf ist dann nicht viel zu sagen, außer: Es war lang, es war hart, es war fad. Es stand ab Kilometer 43, 44 auf der Kippe, ob Hans und ich überhaupt ankommen werden.
Anfangs lief alles wie geplant: Wir hatten uns eine Pace von 7:00 ausgedacht und konnten die auch soweit halten. Aber weil es Hans an dem Tag nicht so gut ging und ich einfach noch nicht wieder meine alte Fitness habe, mir vor allem ausreichend lange Läufe fehlen, war es schon ein wenig eine Tortur, überhaupt die Marathon-Distanz zu erreichen.
Von da ab ging es immer weiter bergab: Mit Hans Magen, mit meinen Beinen, mit unserer Motivation. Zeitweise überlegte mein unermüdlicher Marathon-Nachbar sogar, ganz auszusteigen, fing sich aber doch wieder.
Wir wechselten von da an stetig zwischen Geh- und Laufphasen und kämpften uns Kilometer um Kilometer weiter Richtung Ziel. … Die Details erspare ich dem geneigten Leser. Sie sind im angehängten Video dokumentiert.
Irgendwann hat jede Qual ein Ende und so erreichten wir doch tatsächlich nach – räusper – schlanken 9 Stunden 36 Minuten das Ziel in Memmingen. Ich war selten so froh, einen bestimmten Ort erreicht zu haben, wie nach diesen 68 Kilometern!
Im Ziel wartete bereits meine Frau auf uns, die extra einen halben Tag von der Arbeit frei genommen hatte, um notfallmäßig ihren Mann irgendwo an der Iller aufzulesen oder, sollte er es tatsächlich schaffen, die ganze Strecke zurückzulegen, im Ziel abzuholen.
Zuletzt sei dem Veranstalter und den vielen freiwilligen Helfern noch ein dickes Lob auszusprechen: Der Lauf war wirklich super organisiert und ich sehe der Rennleitung nachträglich auch nach, dass die Strecke kurzerhand geändert und um ganze zwei Kilometer verlängert werden musste. Ansonsten alles tiptop, vor allem die reichlich bestückten Versorgungsstände.
Gestern wurde mir vieles klar. Etwa, dass man für sehr lange Läufe vorher viele ausreichend lange Länge absolviert haben sollte. Dass ich vieles bin und vieles sein kann, aber wohl in diesem Leben kein Ultraläufer mehr werde. Dass es große Abstufungen bei Schmerzen geben kann. Dass ich irgendwo doch ein harter Hund bin und wider erwartend das Ding zu Ende gebracht habe.
Ich freue mich jetzt auf die nächste Veranstaltung: Einen angenehm kurzen Halbmarathon mit meiner Frau im Allgäu.
Wenn du denkst, es geht nicht mehr,
kommt von irgendwo ein Flüssig-Gel her.