Der Beginn. München. Mittersendling am Samstag Morgen. Um viertel nach 5 klingelt der Wecker meines Telefons, und ich habe ganz und gar keine Versuchung, hier länger liegen zu bleiben. Vielleicht muss man Läufer sein, um das zu verstehen. Geht es um die lange Laufeinheit am Wochenende, fällt es mir nicht schwer frühmorgens aus dem Bett zu kriechen. Mit Bewegung an der frischen Luft in den Tag. Meine Laufschuhe und ich, mit irgend einer Strecke im Kopf, die es sich lohnt zu laufen. Gerade diese Stunden sind das, was ich suche. Heute werde ich dafür an den Ammersee fahren und ihn einmal laufend umrunden. Ich trage dieses Laufidee schon eine ganze Weile mit mir herum, und an diesem Samstag im April ist es endlich soweit dafür. Aber erstmal der Reihe nach.

Frühstück. Ich höre das erste Vögelgezwitscher über die offene Balkontüre, während ich Kaffee koche und die restlichen Habseligkeiten für meine heutige Runde zusammentrage. Die Trinkflaschen möchten befüllt werden, und da ist auch noch etwas Zauberpulver für das Getränk für die Autofahrt. Ansonsten habe ich wie zumeist das Wichtigste – meine Laufklamotten – schon am Abend zuvor in die Küche gelegt. Dies dient als eine Art mentaler Einstieg in die lange Einheit, und irgendwie schwingt da immer auch eine Portion doppelter Freude mit. Der Lauf beginnt damit quasi schon am Vorabend. Zum Frühstück esse ich den übrig gebliebenen Salat von gestern, schmiere mir ein paar Maiswaffeln mit Erdbeermarmelade und leere die Kaffeetasse. Jeder Läufer hat seine eigenen Frühstücksrituale. Ich wähle meinen Speiseplan meist intuitiv nach Tagesgefühl.

Die Fahrt. Ich verlasse den Mittleren Ring und nehme die A 96 in Richtung Lindau. Die Straßen sind leer gefegt. Dies liegt wohl nicht nur daran, dass es noch vor 6 Uhr am Wochenende ist. In Zeiten von Ausgangsbeschränkungen ticken die Uhren anders. An dieser Stelle sei nur kurz erwähnt, dass Bewegung an der frischen Luft trotz ausgerufenem Katastrophenfall ausdrücklich erwünscht ist. Auch Ausflüge in die nähere Umgebung bekamen via Radio den Genehmigungsstempel vom Innenminister persönlich. Alles „roger“ sozusagen. So muss ich diese Karte spielen und heute raus aus der Stadt.

Heutzutage. Die letzten Wochen waren für ambitionierte Läufer in München nicht einfach. Die Leute – wem verdenkt man es – ziehen nach draußen. Wie die Gattung „Menschläuft“ toujour im Wandel der Jahreszeiten. Das ausgerufene social-distancing ist hier jedoch nur schwer einzuhalten. Andererseits hat die Krise aber auch etwas Bereicherndes. Ich habe in diesen Tagen eine Art Laufrenaissance festgestellt. Selten sah ich derart viele Neu- und/oder Wiedereinsteiger in meinem Viertel, den Parks und an der Isar. Als Laufmensch finde ich das absolut begrüßenswert. Nicht zuletzt wegen der frischen Farbtupfer im Erscheinungsbild unserer Szene. War ich an manchen Tagen der einsame Langstreckenläufer, sehe ich neuerdings zahllose Old-School-Running-Outfits an allen Ecken der Stadt. Für diesen Sport brauchst du eben nicht viel; geschweige denn eine High-End-Funktionsausrüstung: Eine Hose, ein T-Shirt, ein paar Schuhe. Das reicht.

Das erste Kapitel. Ich habe mein Auto in einer Bucht hinter Herrsching geparkt. Bevor es losgeht, nehme ich einen letzten Schluck vom mitgenommenen Kaffee und drehe das Radio aus. Dann kralle ich meinen Rucksack und gehe zuerst runter an den See. Ich begrüße das Wasser und lasse meinen Blick am Ufer entlang schweifen. Einmal rund herum? Wieviel Kilometer sind das? Aus vertraulichen Kreisen habe ich erfahren, dass es über die Marathondistanz hinaus geht. Ich weiß, dass hier wird keine kurze Runde mit dem Hund um den Block. Ebenso bin ich nicht der Erste, der auf die Idee kommt den Ammersee zu umrunden und sicherlich gibt es begnadetere Läufer als mich. Doch darum geht es hier nicht. Ich muss dieses Ding laufen, um darüber schreiben zu können. Ein langer Lauf. Vielleicht gerade jetzt an Ostern. Eine Art Auferstehung aus meiner läuferischen Frühjahrskrise. Reflexartig schießt das Smartphone noch ein paar Selbstaufnahmen des etwas müde drein schauenden Läufers. Anschließend zurre ich den Rucksack fest, schaue einmal zurück aufs Wasser, dann auf meine Schuhe. Jetzt drücke ich endlich die Starttaste meiner Uhr und mache den ersten Schritt nach vorne.

Ich werde den See im Uhrzeigersinn umrunden. Da ich Herrsching läuferisch bereits etwas kenne macht das Sinn für mich. Die ersten Kilometer geht es über vertraute Wege am Ufer entlang. Links die Häuser mit ihren großen Gartengrundstücken, rechts das Wasser. Mein Auge bleibt intuitiv am See hängen, denn die zart im Osten aufgehende Sonne zaubert eine unfassbare schöne Morgenstimmung. Die ersten Minuten fühlen sich sehr gut an und ich laufe locker dahin. Ich kenne dieses Laufgefühl: Zu wissen, im Moment genau das Richtige zu tun. Über den Wäldern von Herrsching ragt die Klosterkirche von Andechs empor. Trotz kurzem Lockreiz (der Höhenmeter und der nicht minder schönen Strecke wegen), pilgere ich heute nicht nach oben, sondern passiere die Uferpromenade, den geschlossenen Hofbräubiergarten und die Dampferanlegestelle. Wo normalerweise ab vormittags Touristenmassen flanieren, bleiben heute die Schotten dicht. Am Kiosk „Bayerische Brandung“ sehe ich auf einer Schiefertafel den passenden Spruch zur allgemeinen Gemengenlage: „Liebe Leute! Ja, es ist schade, dass wir nicht auf haben, aber ‚to go‘ ist nicht unser Ding und hier eh unmöglich“. Auch to-go ist nicht das Meine – ich halte es eher mit to-run. Das hingegen muss erst noch erfunden werden.

Um den gesamten Ammersee ist ein Radweg erschlossen. Die Routenführung sollte heute kein Problem sein. Einfach den grünen Pfeilen und Schrift auf weißem Untergrund folgen und sich ganz dem Laufen hingeben. Sicher nehme ich auch die Möglichkeiten wahr, den Radweg mal zu verlassen um den ein oder anderen Single-Trail zu erkunden. Wie hier direkt nach Herrsching, das ich bereits nach rund 5 km hinter mir gelassen habe. Jemand war so nett und hat ein paar Steine in den im Ammersee mündenden Mühltalbachlauf gelegt. So erspare ich mir nasse Füße oder einen doppelten Weg zurück zur offiziellen Radroute.

Laufe ich lange Strecken wie diese, spüre ich läuferisch keinen Druck. Es gilt ein angenehmes Lauftempo zu finden und einfach die Umgebung um einen herum aufzusaugen. Die Radwegstrecke grüßt bald wieder und ich groove mich langsam auf deren Schotterpiste ein. In den ersten 45 Minuten des Laufes machte ich hier und da ein paar kurze Fotostopps, obwohl ich diese eigentlich nicht mag. Das Stehenbleiben und die Handycam zücken geht zumeist zu Lasten des Laufflows. Gehört dann aber doch irgendwie dazu. Fürs persönliche Fotoalbum oder zu Dokumentationszwecken für die daheim Gebliebenen.

Hinter dem kaum wahrgenommenen, mir aber bekannten Wartaweil, wechselt irgendwann der Belag des Weges. Bis Fischen laufe ich nun auf der geteerten Radstrecke. In der Ferne sehe ich die markanten Parabolantennen der Erdfunkstelle in Raisting, während meine Wegführung sich unweigerlich vom Seeufer entfernt. Denn das Südufer des Ammersees ist als ausgewiesenes Naturzschutzgebiet verdientermaßen den Vögeln als Freistätte vorbehalten. Hier mündet die dem Gewässer namensgebende Ammer in den drittgrößten See Bayerns.

Das zweite Kapitel. Ich habe die Ammer überquert (KM 13). Geradeaus geht es auf der Staatsstraße in nur vier Kilometern nach Dießen. Eine Schautafel ermahnt Radfahrer und Wanderer jedoch, hier eindringlich keinesfalls neben den Autos einen auf Krötenwanderung zu machen. Stattdessen gibt es die Empfehlung, die Route über die Radwegumleitung durch eine nicht minder schöne Landschaft zu nehmen; doppelte Kilometeranzahl zum Ortseingang inklusive. Ich folge der Ausschilderung, verliere jedoch kurze Zeit später aus mir nicht ersichtlichen Gründen den richtigen Pfad und lande nach einem erzwungenen Querfeldeinlauf wieder an der Staatsstraße. Zugegebenermaßen sind meine Navigationsfähigkeiten nicht immer die besten – ich würde sogar das Kunststück vollbringen mich auf einer Stadionrunde zu verlaufen. Statt über die Landstraße zu hetzen, folge ich nun einem für landwirtschaftliche Nutzung ausgewiesenen Feldweg und erreiche über einen Umweg, ohne die Vögel zu beinträchtigen, schließlich Dießen (ca. nach 18 km).

Das Westufer des Sees wartet mit zahlreichen Bootsanlegestellen auf. Hier in Dießen würde es in nur einer halben Stunde mit dem Dampfer der bayerischen Seenschiffahrt zurück nach Herrsching gehen. Der Saisonstart ist in diesem Frühjahr der Corona-Lage zum Opfer gefallen. Mit der nun warmen Morgensonne im Rücken erahne ich meinen Startpunkt der Runde. Ich brauche keinen Dampfer zurück und auch Schwimmen ist für mich keine Option. Ich bin ein miserabler Fisch im Wasser; ansonsten wäre ich längst Triathlet. Stattdessen bleibe ich bei dem was ich kann und einfach gerne mache. Laufen. Schritt für Schritt. Meine pinken Kinvaras aus dem Hause Saucony erweisen mir dabei ihre treuen Dienste. Nach Sankt Alban (KM 20) esse ich den zweiten Riegel des Tages. Diese lange Einheit ist für mich ein Genusslauf. Es geht nicht darum, den Fettstoffwechsel eines Marathontrainings zu erproben.

Das dritte Kapitel. Um einen See zu laufen, ist wie Karussellfahren. Geht die Fahrt erst einmal los, musst du auch rund herum. Nicht, dass in mir Zweifel aufkämen. Ich fühle mich nach wie vor frisch und wohl, als ich nach über etwas zwei Stunden das an der Linie der Ammerseebahn liegende Örtchen Riederau erreiche. Nun geht es immer weiter an der Bahntrasse entlang. Die hier verkehrende Bayerische Oberlandbahn verbindet Mering bei Augsburg im Norden und Weilheim im Süden. Der Weg führt mich durch ein schönes Waldgebiet, dessen Ruhe und Lichtspiel ein wahres Highlight dieses Frühlingstages sind. Alternativlos schön. Irgendwo zuvor sah ich die Längenangabe von rund 13 km bis Eching, welches am Nordufer des Sees liegt. Ich blicke auf meine Laufuhr und kalkuliere die Streckenlänge kurz im Kopf. Alles im grünen Bereich.

In München ist die „alte Utting“ gestrandet. Ein Gastro-Projekt unweit meines Viertels. Den Hafen des namensstiftenden Ortes eines ehemals auf dem Ammersee tourenden Schiffes markiere ich bei Kilometer 26. Läuferisch bin ich wohl in der zweiten Hälfte des Tages angelangt. Ich verspüre keine Sehnsucht, jetzt in die „alte Utting“ einzukehren. Die Regeneration kommt später. Ich nehme viel lieber das sich hier mir bietende maritime Feeling mit. Der Ammersee hat ja auch ein wenig etwas von einem bayerischen Meer. Die Bootsanlegestellen, die Stege, die Anzahl der Segelschulen – ich habe erst gar nicht angefangen, sie zu zählen. Hinzu kommt die hier so ganz anders erscheinende Architektur der alten Häuser am See. Sicherlich gibt es hier und da auch die andere, aus dem Bild fallende kubistische Bauweise neuerer Denkart. Dies soll jedoch nicht Gegenstand dieses Laufberichts sein.

Das vierte Kapitel. Das Fünfseenland ist zum Leben erwacht. Und ich meine nicht die Unmengen an Wasservögel, die allerorts unaufgeregt ihren Geschäften nachgehen. Mittlerweile begegne ich auf meinen Pfaden nun auch vermehrt Spaziergängern, Radfahrern und anderen Läufern. Und da ist dieser freundlich grüßende Berufsjugendliche auf einem alten NSU-Zweirad in Schondorf. Nach 30 km in den Schuhen neigen sich langsam meine Wasservorräte zu Ende. Ich hätte ihn vielleicht um ein wenig Wasser bitten sollen. Die Frage nach der Flüssigkeit würde sich auf einer Ammerseeumrundung eigentlich nicht stellen. Nicht, dass es verlockend wäre, aus dem Wasser des Sees zu trinken. Fast jeder Uferort wartet mit seinem eigenen Strandbad und zahlreichen Kiosks direkt am Wegesrand auf. Nur sind die hiesigen Tage eben anders. Die Verkaufsbuden sind geschlossen und auch an jeder öffentlichen Toilette bleibt einem der Einlass verwehrt. Da Eching nicht mehr weit ist, nehme ich mir vor, in den Ort zu laufen und dort für die Wiederauffüllung der Wasserreserven zu sorgen.

Doch ich habe die Rechnung ohne den Karsamstag gemacht. Beim REWE-Handelsmarkt in Eching herrscht Volksfeststimmung. Der Parkplatz ist voll. Vor dem ausgegliederten Getränkemarkt warten die Kunden mit Sicherheitsabstand brav in einer Reihe. Jetzt eine Pause machen und Schlange stehen für ein lackes Sprudelwasser? Nein, ist nicht mein Ding. Außerdem ist da noch etwas Wasser in den Softflaks. So laufe ich also weiter in Richtung Inning. Der Weg führt nun parallel zur A 96. Ich bin am nördlichsten Streckenpunkt angelangt. Ich nehme die Brücke über die Amper, welche hier aus dem Ammersee heraus fließt und bei Mossburg später in die Isar mündet.

Ich bin im letzten Viertel der Strecke. Sicherlich spüre ich so langsam die gelaufenen Kilometer. Angesichts der „langen Einheit“ (35 km) im Kasten, geht das aber in Ordnung. Auch das mir bekannte, sonst so trubelige Seebad in Stegen ist verwaist. Die Trinkflaschen sind jetzt geleert, ich hingegen habe Rückenwind. Von hier bis zur Ziellinie ist es nicht mehr allzu weit und ich spüre Euphorie, diese Umrundung zu Ende zu laufen. In Buch sehe ich am Haus der Wasserwacht einen Müßiggänger. Einen kurzen Smalltalk später habe ich wieder einen vollen Trinkrucksack und etwas Bewunderung über meine Unternehmung seinerseits mit als Zusatzgepäck. Zudem sagte er mir genau voraus, wie viele Kilometer es noch am Uferwanderweg von hier zurück nach Herrsching sein werden. Sei er letzte Woche erst selbst abgelaufen. Alles aufgezeichnet, seine App macht es möglich.

Finish. Die letzten Kilometern sind läuferisch eine wahre Freude. Trailfreunde kommen hier auf ihre Kosten, denn wir haben uns vom Radweg wieder verabschiedet. Nun gibt es satte Trails samt Wurzelgeflecht, Gewässer und schlammigen Untergrund. Es geht über kleine Palisadenbrücken, Stock und Stein. All das bei bestem, frühlingshaften Laufwetter. Ich nehme all die Eindrücke nur noch flüchtig wahr. Die 42 Komma 195 km auf dem Tacho entlocken mir einen kurzen Schrei. Ich bin eine reine Laufmaschine und gepolt, meine Heimatbucht zu erreichen. Jetzt geht es im Laufflug zurück zum Start. Ich fetze um die Kurven des Uferwaldes und, fast schon ein wenig überrascht, erreiche ich scheinbar aus dem Nichts die mir bekannten kleinen Bootswerften in der Nähe meines Parkplatzes. Ich habe mein Ziel erreicht und kann es selbst noch nicht so richtig fassen. Am Bootshaus macht ein junges Paar ihre Morgenyogastunde. Sie lächeln mich an, ich lache zurück. „Yeah. Ich bin einmal rund herum gelaufen.“, sage ich zufrieden zu ihnen. Ich weiss nicht, ob sie verstehen, was ich meine. Sie lächeln weiter, ich laufe zum Wasser und lächle zurück.

Arno D. – lebt, schreibt und läuft in München, Bayern und der Welt. Auf MENSCHLÄUFT berichtet er in unregelmäßigen Abständen von seinen Laufabenteuern auf den Trails da draußen.
icon_lauf-training

Um den Ammersee.

11.04.2020, 06:41

icon_distanz45,01 km
Gesamtdistanz

icon_dauer4:18:00
Gesamtdauer

icon_pace5:44 min/km
Ø-Pace

icon_geschwindigkeitØ 10,5 km/h
17,6 km/h max.

icon_hoeheicon_hoehe-aufwaerts 161 m     icon_hoehe-abwaerts 156 m
551 m max. Höhe

icon_kalorien3.870 Kcal
Kalorien

Session Infos

Untergrund
Asphalt & Wege

Ausrüstung

Saucony Kinvara 9
Neutralschuh

EVERRUN Topsole

Garmin Forerunner® 920 XT
Multisport GPS-Uhr

Detaillierte Daten

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Fotos der Aktivität

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